Die Norm ist nicht das Maß aller Dinge – Warum Vielfalt mehr ist als nur eine Diagnose

Veröffentlicht am 10. November 2024 um 09:24

Es ist erschreckend, wie oft Kinder heute in starre Normen gepresst werden – Normen, die festlegen, wie sie zu lernen, zu fühlen und zu handeln haben. Für Eltern und Erziehende bedeutet dies oft, dass sie einen ICD-10-Code, also eine Diagnose, für ihre Kinder benötigen, um Unterstützung in Kita oder Schule zu erhalten. Doch was passiert mit denen, die einfach anders sind, ohne dass sie tatsächlich krank sind? Kinder, die sensibel auf ihre Umgebung reagieren oder die Welt ein wenig anders wahrnehmen? Ist eine Diagnose wirklich der einzige Weg, ihnen gerecht zu werden?

In Deutschland scheint es, dass Kinder nur dann besondere Unterstützung in Kita oder Schule erhalten, wenn eine medizinische Diagnose, ein sogenannter ICD-10-Code, vorliegt. Dies setzt Eltern unter erheblichen Druck, eine Diagnose für ihr Kind zu suchen, wenn es den „üblichen Rahmen“ verlässt. Sicherlich kann es sinnvoll sein, eine professionelle Beurteilung durch geschulte Psychologen oder Ärzte einzuholen, vor allem, wenn das Kind oder der Jugendliche stark unter seiner Situation leidet. Doch bei hochsensiblen Kindern könnte diese Diagnose den Eindruck verstärken, dass sie „anders“ oder „nicht passend“ sind – eine Botschaft, die sie ohnehin oft spüren.

Doch was bedeutet es überhaupt, von der Norm abzuweichen? Was ist „die Norm“ und wer bestimmt sie? Bedeutet es, dass jemand „unnormal“ ist, nur weil er nicht der Durchschnittsform entspricht? Die Norm basiert auf dem Durchschnitt aller Werte zwischen dem höchsten und niedrigsten – wie etwa die durchschnittliche Schuhgröße bei Frauen in Deutschland. Manche Frauen tragen Schuhgröße 35, andere Schuhgröße 46, aber der rechnerische Durchschnitt liegt bei 39,5. Doch entgegen der Annahme haben nur etwa 18% aller Frauen tatsächlich Größe 39,5, während die Mehrheit andere Größen trägt. Bedeutet das, dass alle anderen „unnormal“ sind, nur weil sie von der Norm abweichen? Diese Frage würde bei Schuhgrößen wohl kaum jemand stellen.

Wenn Kinder heute nicht in das leistungsorientierte System unserer Kitas und Schulen passen, werden sie oft als „nicht normkompatibel“ bezeichnet. Wir vergeben Etiketten wie ADHS, ASS, Trisomie 21 und kategorisieren sie als behandlungsbedürftig, ohne das System selbst infrage zu stellen, in dem sie sich befinden.

Was, wenn wir Kinder anders unterstützen?
Was würde geschehen, wenn wir statt ihrer „Defizite“ nach den Ressourcen der Kinder suchten? Wenn wir statt eines zu engen oder zu weiten Rahmens etwas schaffen könnten, das ihren Stärken und Bedürfnissen gerecht wird? Gerade hochsensible Kinder profitieren von einfachen Anpassungen im Alltag, die gleichzeitig allen Kindern in einer Gruppe oder Klasse zugutekommen können.

  • Regelmäßige Pausen in ruhigen Räumen: Hochsensible Kinder fühlen sich oft schnell überreizt durch Lärm und Trubel, wie sie in Klassenzimmern oder Gruppenräumen üblich sind. Kurze, regelmäßige Pausen in einem ruhigen Raum bieten ihnen die Möglichkeit, sich zu entspannen und wieder zu fokussieren. Auch für andere Kinder, die sich leicht ablenken lassen, ist dies eine hilfreiche Methode, die Konzentrationsfähigkeit zu verbessern.
  • Flexibilität bei Aufgaben und Bewegungsfreiheit: Hochsensible Kinder profitieren davon, wenn sie Aufgaben zeitweise auf ihre eigene Weise bearbeiten können oder gelegentlich aufstehen und sich bewegen dürfen. Ein Klassenzimmer, in dem es flexible Arbeitsplätze gibt und Schüler auch mal im Stehen oder auf einem Sitzkissen arbeiten dürfen, kann eine positive Lernatmosphäre schaffen – für hochsensible ebenso wie für alle anderen.

Erfolgreiche Beispiele aus anderen Ländern
In skandinavischen Bildungssystemen etwa wird eine starke Betonung auf individuelle Förderung gelegt, ohne dass ständig Diagnosen benötigt werden. Dort setzt man auf kleine Klassen, flexible Lernumgebungen und einen respektvollen Umgang mit den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder. Die positiven Ergebnisse in Sachen Wohlbefinden und Schulerfolg sprechen für sich: Diese Schulen verzeichnen deutlich weniger psychosoziale Belastungen und fördern eine Gemeinschaft, die auf gegenseitiger Unterstützung basiert. Warum sollte dies nicht auch in Deutschland möglich sein?

Gerald Hüther über die Bedeutung von Vielfalt
Der Neurobiologe Gerald Hüther beschreibt treffend, warum eine stärkebasierte Sichtweise so wichtig ist: „Das, was Kinder am dringendsten brauchen, sind Menschen, die sie in ihrem So-Sein unterstützen und ihnen helfen, ihre eigenen Potenziale zu entdecken und zu entfalten.“

Kinder brauchen passende Schuhe – eine Umgebung, die sie unterstützt und ihnen Raum zur Entfaltung gibt, statt sie in Kategorien zu zwingen. Es ist faszinierend, sich vorzustellen, wie viele wunderbare und bereichernde Menschen in unserer Gesellschaft aufblühen könnten, wenn wir sie so sehen, wie sie wirklich sind.

Psychosomatische Erkrankungen, Schulverweigerung oder Schulabbrüche wären häufig vermeidbar, wenn die Gesellschaft den Wert der Diversität wirklich verstehen würde – und damit ist nicht nur das Thema Geschlecht gemeint. Die Vielfalt menschlicher Fähigkeiten und Persönlichkeiten ist ein Schatz, der nur darauf wartet, gehoben zu werden.

 

Es ist Zeit, die Stempel und den ständigen Leistungsdruck loszulassen. Vielfalt darf nicht als Abweichung von der Norm gelten, sondern als Bereicherung, die uns alle weiterbringt – wenn wir es zulassen.

 

 

 

 

Quellen:

Gerald Hüther

  • Hüther, G. "Rettet das Spiel!"
  • Hüther, G. "Jedes Kind ist hochbegabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen."

 OECD-Bericht über Bildungspolitik und stärkenorientierte Förderung

  • OECD. "Education at a Glance." Jährliche Berichte über internationale Bildungspolitik und positive Effekte stärkenorientierter Lernumgebungen.

Diagnosedruck und psychosoziale Belastungen

  • Journal of Child Psychology and Psychiatry. Artikel: "Child and Adolescent Mental Health Services: Demand and burden on healthcare systems." Behandelt psychosoziale Belastungen durch Diagnosedruck.

Effekte von Ruhephasen und flexiblen Lernumgebungen

  • Educational Psychology Review. Studien zu positiven Effekten von Ruhepausen und flexiblen Lernumgebungen auf Konzentration und Wohlbefinden, besonders für sensible Kinder.

Psychosomatische Auswirkungen von Leistungsdruck im Schulsystem

  • Hurrelmann, K. "Lebensphase Jugend."
  • World Vision Kinderreport. Beiträge zu psychosomatischen Beschwerden durch schulischen Leistungsdruck und gesellschaftliche Normen.

 

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